Von der gestrigen NZZ
Das fliegende Klassenzimmer
Der FC St. Gallen entdeckt unbekannte Spieler für sein Erfolgsmodell und steht vor der nächsten Prüfung
Marco Ackermann, St. Gallen
Der Motor läuft wieder einmal warm, die Maschine steht vor dem Abheben. Zum ersten Mal mit dem Trainer Peter Zeidler hat der FC St. Gallen in der Super League drei Spiele hintereinander gewonnen. Nachdem Matthias Hüppi Ende 2017 im Klub das Präsidium übernommen hatte, sagte er, er verstehe sich als Teil eines Projekts, das dereinst fliegen soll. Aber immer, wenn bis anhin der Take-off bevorstand, kam der Motor ins Stottern. Im Cup erfolgte zuletzt ein Absturz. Das nächste Ziel: drei Punkte am Samstag im Heimspiel gegen den FC Thun – und Platz 2 wäre in Reichweite.
Der Möglichkeit, dass der FC St. Gallen eine solche Flughöhe erreichen kann, haftet etwas Erstaunliches an. Der Klub hatte im Sommer gestandene Spieler verloren: Ashimeru, Barnetta oder Sierro. Und er startete mit einem Budget von rund 7,6 Millionen Franken in die Saison; es ist eines der kleinsten der Liga. Doch mit der neuen Führung hat der Verein aus der Not eine Tugend gemacht. Er verpflichtet Spieler, die sich bei der finanzstärkeren Konkurrenz unter dem Radar bewegen. Oder wie es der Sportchef Alain Sutter formuliert: «In unserem Jagdgebiet hat es unterbewertete Aktien mit Potenzial.»
«Helfen, reich zu werden»
Der FC St. Gallen gemahnt manchmal an eine Sonderschule für unentdeckte Begabte. Die Ostschweizer päppeln Spieler auf, die aus irgendeinem Grund den Durchbruch noch nicht geschafft haben – einstige Talente wie Jordi Quintillà, Victor Ruiz oder Lukas Görtler, ausgebildet im FC Barcelona, FC Valencia und im FC Bayern. Für sie ist der zweite Bildungsweg erfolgreich verlaufen. In der Super League stiegen sie von Nobodys zu Stammspielern auf. Und der FC St. Gallen zeigt erfrischenden Fussball. Für den Klub hat sich daraus ein neues Geschäftsmodell entwickelt. Er positioniert sich dadurch, Anschubhilfe für eine Profikarriere zu leisten. Der Sportchef Sutter sagt: «Bei uns wird keiner reich. Aber wir können helfen, dies später zu werden.» Auf dem Transfermarkt habe sich das herumgesprochen. Mit längeren Vertragslaufzeiten hat sich der Klub unterdessen besser abgesichert.
Sutter, gestählt als Coach für Stressmanagement, ist innerhalb der Organisation eine Art Spiritus Rector. Der Trainer Zeidler, ein ehemaliger Französischlehrer, ist für die unmittelbare Betreuung der Spieler verantwortlich. Und wenn Turbulenzen aufziehen, markiert der Präsident Hüppi den Kapitän. Eines seiner Lieblingsinstrumente bei der Integration der ausländischen Spieler ist der Deutschkurs, und auch eine Schulreise ins Alpsteingebiet durfte nicht fehlen. St. Gallen, eine Wohlfühloase? Durchaus. Sein FC als geschützte Werkstatt? Keinesfalls.
Der Sportchef Sutter hat sich den Ruf geschaffen, eisern an seinen Prinzipien festzuhalten. Er pflegt zu sagen, er könne jemanden zum Brunnen führen, aber saufen müsse dieser selber. Was er damit meint: dass er bei seinen Spielern Erfolgshunger voraussetzt. Er nehme einen Junior nicht weniger in die Verantwortung als einen Routinier. St. Gallen spielte in dieser Saison auch schon mit einer Verteidigung, die ein Durchschnittsalter von knapp 20 Jahren hatte. Sutter sagt, wenn die Qualität vorhanden sei, könne der Trainer auch mit elf 20-Jährigen in eine Partie gehen.
Siegen wie die Bayern
Nach dem Sieg am Mittwoch in Sitten erzählte Zeidler, seine Spieler hätten getanzt und gesungen. Die Kabine wurde zum fliegenden Klassenzimmer. Sutter sagt vor dem Match gegen Thun, als Spieler des FC Bayern habe er eigentlich jeden dritten Tag ein Endspiel gehabt, da habe man sich durch nichts ablenken lassen dürfen. «Immer abhaken und weiter, abhaken und weiter», dahin wolle er seine Spieler auch bringen. «Wir haben dreimal nacheinander gewonnen, aber das reicht nicht. Erfolgreiche Mannschaften siegen 20 Mal in Serie.»
Auch der FC St. Gallen der jüngsten Prägung hat ein paar kleinere Stürme überstehen müssen. Wenn nach einer Belastungsprobe gefragt wird, wird gerne an die Partie im April in Neuenburg gegen Xamax erinnert. Der FC St. Gallen drohte damals in den Abstiegskampf zu geraten, kämpfte sich aber zu einem 1:0-Sieg. Hüppi betont: «Wir haben damals unsere Reihen geschlossen und uns aus dem Sumpf gezogen.»
Der frühere Nationalspieler Stefan Wolf ist im Verwaltungsrat für den Sport zuständig und quasi ein Vorgesetzter des Sportchefs. Wolf sagt: «Alains Gelassenheit hat uns damals gutgetan. Er verliert nicht so rasch die Nerven.» Überhaupt habe die Zusammensetzung an der Klubspitze einen Vorteil. «Alain und Matthias haben sich zur Genüge profiliert, müssen sich nicht mehr beweisen. Dadurch konzentriert sich vieles auf die Sache statt auf Persönliches.»
Wie stabil das Gebilde FC St. Gallen bereits ist, wird sich am Samstagabend weisen müssen. Trotz den letzten Siegen verlief der Vorverkauf für den Match gegen Thun schleppend. Nachdem es am letzten Heimspiel auf den Tribünen zu Vorfällen mit pyrotechnischem Material gekommen war, sah sich der Klub zu einer Verurteilung der Ausschreitungen veranlasst.
Und was das Geschehen auf dem Rasen betrifft, sagt der Sportchef Sutter: «Jetzt müssen die Spieler zeigen, ob sie schon genug Qualität haben.»